Die Kapitänin geht von Bord Von Ulrich Steinkohl, dpa

Es gibt eine ganze Generation in Deutschland, die kennt vom eigenen Erleben nur sie als Kanzlerin: Angela Merkel. Nun verlässt sie die Kommandobrücke. Nur einer stand dort bislang länger als sie. Doch auch diesen könnte sie noch überflügeln.

Berlin (dpa) - Bestimmt wird wieder John Tenniel herhalten müssen.

Jener Tenniel, der im März 1890 in der britischen Satirezeitschrift «Punch» eine berühmt gewordene Karikatur veröffentlichte. Sie zeigt Reichskanzler Otto von Bismarck, der nach seinem Rücktritt über eine Außentreppe ein Schiff verlässt. «Der Lotse geht von Bord», lautete der deutsche Titel. Wenn Angela Merkel demnächst nach 16 Jahren von der Kommandobrücke im Kanzleramt geht, liegt dieses Bild nahe - auch wenn der Vergleich historisch völlig hinkt.

Denn weder war die 67-jährige CDU-Politikerin nur Lotsin, sondern - wenn man in diesem Bild bleiben will - die Kapitänin auf der MS Deutschland. Noch verlässt sie das Staatsschiff unfreiwillig wie seinerzeit Bismarck, den Kaiser Wilhelm II. zu diesem Schritt gedrängt hatte. Aber sie geht. Und es wird eine Zäsur für Deutschland und weit darüber hinaus, deren Folgen noch nicht abschätzbar sind.

16 Regierungsjahre - wenn sich etwas wie ein roter Faden durch diese Zeit zieht, dann sind es Krisen in unterschiedlichsten Dimensionen:
Finanz- und Bankenkrise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise - um nur die größten zu nennen. Die Kanzlerin nimmt es mit dem ihr eigenen Pragmatismus: «Ein Leben ohne Krisen ist natürlich einfacher. Aber wenn sie da sind, müssen sie bewältigt werden», sagte sie jüngst. Diese nicht hausgemachten Krisen zeigten eben, «dass wir Teil einer Weltgesamtheit sind».

Besonders deutlich wird dies in der internationalen BANKEN- UND FINANZKRISE. Im September 2008 meldet die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Die deutsche Hypo Real Estate droht mit in den Strudel gerissenen zu werden. In einem spektakulären Auftritt versichern die Kanzlerin und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) den Bürgern am 5. Oktober: «Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.» Die Erklärung zeigt die gewünschte Wirkung, der Run auf die Banken bleibt aus. Die Hypo Real Estate wird später verstaatlicht. Andere Banken wie die Commerzbank stützt der Staat mit Milliardensummen.

Von der Krise des Bankensystems führt eine direkte Linie zur EURO-KRISE. Einigen EU-Mitgliedern - allen voran Griechenland - droht wegen der exorbitanten Staatsverschuldung der Bankrott. Die Existenz des einheitlichen Währungssystems steht auf der Kippe. Merkels Grundüberzeugung, vorgetragen in einer Regierungserklärung am 26.
Oktober 2011: «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das darf nicht passieren.» Merkel ist zu Hilfen bereit, knüpft sie aber an «strenge Bedingungen» - Strukturreformen und harte Einsparungen.
Dieser Kurs beim Ausgestalten des Euro-Rettungsschirms macht sie vor allem in Griechenland zeitweise zur Hassfigur. Auf Plakaten von Demonstranten ist sie immer wieder in Nazi-Uniform zu sehen.

Wohl kein anderer Satz Merkels hat einen derartigen Nachhall wie ihre Einschätzung der FLÜCHTLINGSKRISE im Sommer 2015: «Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das», versichert die Kanzlerin am 31.
August. Die wahre Dimension des Problems ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehbar. In der Nacht zum 5. September entscheiden die Regierungen in Berlin und Wien, mehrere tausend Flüchtlinge aus Ungarn ins Land zu lassen - eine Art Initialzündung.

Merkels Problem: Während ein großer Teil der Bevölkerung eine enorme Hilfsbereitschaft an den Tag legt, verweigert ihr ein anderer Teil die Gefolgschaft. Die AfD, bis dahin konzentriert auf die Ablehnung des Euros, springt auf das Thema - und reduziert Merkel und ihre gesamte Politik bis heute darauf. Die aus dem Osten kommende Kanzlerin wird dort immer öfter mit «Merkel-muss-weg»-Sprechchören und noch schlimmeren Parolen empfangen.

Die stark steigende Zuwanderung führt auch zu einem tiefen ZERWÜRFNIS ZWISCHEN CDU UND CSU und wird zum Risiko für die Regierungskoalition.
Beim CSU-Parteitag im November 2015 führt Parteichef Horst Seehofer die CDU-Vorsitzende auf offener Bühne regelrecht vor. Vehement fordert er eine nationale Zuwanderungs-Obergrenze. Merkel, die eine europäische Lösung anstrebt, lehnt diese ab. Im Juli 2018 eskaliert der Streit erneut. Seehofer verkündet erst völlig überraschend seinen Rücktritt als Bundesinnenminister und CSU-Chef, 24 Stunden später dann den Rücktritt vom Rücktritt. Mühsam finden CDU und CSU halbwegs einen Kompromiss. Letztlich sind es aber die wieder stark sinkenden Asylbewerberzahlen und die dann alles überlagernde Corona-Pandemie, die einen asylpolitischen Burgfrieden in der Union ermöglichen.

Als die CORONA-PANDEMIE Anfang 2020 Deutschland erfasst, wendet sich die Kanzlerin am 18. März auf ungewohnte Weise per Fernsehansprache an die Bürger. Ihre Botschaft fasst sie in wenige Worte: «Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.» Merkel gehört zum Kreis der Vorsichtigen, dringt wiederholt auf schärfere Maßnahmen. Doch sie bekommt die Begrenztheit ihrer Macht im föderalen System vor Augen geführt. Wiederholt folgen ihr die Länderregierungschefs nicht.

In der Pandemie erlebt Merkel auch eine schwere Niederlage. Im Kampf gegen die dritte Welle beschließt eine Bund-Länder-Runde im März 2021 zu nächtlicher Stunde eine fünftägige «Osterruhe», die Merkel keine
48 Stunden später wieder einkassiert. «Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler», sagt sie. Auf der Haben-Seite steht dagegen der mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron initiierte und dann im Kreis der EU-Staaten mühsam durchgesetzte Wiederaufbaufonds von
750 Milliarden Euro für die Post-Corona-Zeit.

In der KLIMAPOLITIK fällt die Bilanz der früheren «Klimakanzlerin» heute gemischt aus, wie sie erst jüngst selbst deutlich machte. Zwar sei in ihrer Amtszeit beispielsweise der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung von 10 auf über 40 Prozent gestiegen und insgesamt «einiges passiert». Zur Begrenzung der Erderwärmung sei aber eben «nicht ausreichend viel passiert».

Bei manchen KURSWECHSELN Merkels wäre es den Konservativen in ihrer Partei dagegen bis heute lieber, es wäre weniger geschehen.
Eigentlich zeichnen sie Geradlinigkeit und Prinzipientreue aus. Umso auffälliger sind Korrekturen wie das Aussetzen der Wehrpflicht 2010 oder der Beschluss zum Ausstieg aus der Atomenergie als Folge der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011. Auch die Einführung der Ehe für alle 2017 fällt in diese Kategorie.

Mit Merkel zieht 2005 ein nüchterner Stil ins Kanzleramt ein.
Extravaganzen ihres SPD-Vorgängers Gerhard Schröder, der sich im Brioni-Anzug und mit Cohiba-Zigarre gefiel, sind ihr fremd. Merkel bereitet sich akribisch auf Termine vor, die promovierte Physikerin geht Probleme mit naturwissenschaftlicher Sachlichkeit an. Zehnmal in Folge ernennt das US-Magazin «Forbes» sie zur mächtigsten Frau der Welt. Ihr Markenzeichen werden die zur Raute gefalteten Hände.

Privates bleibt bei Merkel über all die Jahre weitgehend privat.
Einige Fotos aus dem Urlaub etwa beim Spaziergehen auf Ischia oder beim Wandern in Südtirol mit Ehemann Joachim Sauer bieten seltene Einblicke in das Leben jenseits der Politik. Ihre Liebe für die Oper zeigt sich im jährlichen Besuch der Wagner-Festspiele in Bayreuth.

Eine Bilanz ihrer Amtszeit? Merkel mag sie nicht selbst ziehen.
George W. Bush, der erste von vier US-Präsidenten, die sie erlebt hat, bescheinigte ihr soeben im Interview mit der Deutschen Welle, sie habe «das getan, was das Beste für Deutschland ist».

Noch aber ist sie im Amt - und das dürfte nach der Bundestagswahl am 26. September eine Weile so bleiben, je nachdem, wie lange sich die Koalitionsverhandlungen hinziehen. Nicht unrealistisch ist, dass die geschäftsführend weiterregierende Merkel sogar noch ihren einstigen politischen Ziehvater Helmut Kohl als den Kanzler mit der längsten Amtszeit ablöst. Am 17. Dezember wäre es so weit.

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